Der Wecker klingelt. Ich schrecke auf und werfe ein Kissen gegen ihn. Krachend fällt etwas zu Boden. „Mist!“, höre ich mich aufrufen und der Wecker klingelt weiter. „Verdammtes Biest von einem Wecker!“ Ich setzte mich auf, zünde das Licht an und bringe den Wecker zum Schweigen. Nun ist alles still. Mutter wird wohl wieder bei ihrem Freund schlafen. Vater ist vor drei Tagen gestorben. Nun sehe ich, dass mein Spiegel zu Boden gefallen und zerbrochen ist. „Oje, das bedeutet 7 Jahre Pech!“ Vorsichtig setze ich meine nackten Füsse auf den Boden und laufe die Treppe hinunter in die Küche. Ich hole einen kleinen Behälter und steige wieder in mein Zimmer hinauf. Vorsichtig hebe ich Scherbe um Scherbe auf um sie in den Behälter zu legen. „Mist, ich muss mich beeilen!“ Nachdem ich die Scherben aufgehoben habe, ziehe ich mir mein langes, schwarzes Kleid über den Kopf. Meine langen dunkelbraunen Haare binde ich zu einem Knoten zusammen und stecke eine frisch gepflückte Sonnenblume ins Haar. Ich schaue nochmals ob ich alles in meiner Tasche habe. Nachdem ich ein Glas Orangensaft getrunken habe, verlasse ich das Haus und schliesse hinter mir ab. Kirchenglocken schlagen und Menschen in dunklen Kleidern, die ich zum Teil nicht einmal kenne, geben mir die Hand, sprechen ihr Beileid aus und fragen wo denn meine Mutter sei. Ich antworte allen: „Sie ist krank und kann deshalb nicht kommen.“ Ich will ihnen nicht sagen, dass sie bei ihrem heimlichen Freund ist und nicht zur Beerdigung meines Vaters, ihres Ehemannes kommen will. Ich stehe nun vor einem Loch. Ein Holzsarg, in dem mein Vater liegt, wird langsam heruntergelassen. Dazu spricht ein Priester seinen Segen aus. Menschen rund um mich weinen. Ich stehe nur still da und meine Augen bleiben trocken. Ich habe mir fest vorgenommen, nicht zu weinen. Mit Ekel denke ich an meine Mutter, die sogar froh über Vaters Tod ist.

Der Sarg ist nun ganz im Loch verschwunden. Langsam bewegen sich die Menschen in die Kirche. Nach der Messe, sie kam mir unendlich lange vor, gehe ich in einen Park am See und setze mich ans Seeufer. Meine Füsse lasse ich ins Wasser gleiten, nachdem ich die Schuhe ausgezogen habe. Endlich lasse ich meinen Gefühlen freien Lauf und weine. Ich weine still, aber die Tränen rollen über meine Wangen hinab dem Hals entlang hinunter. Gefrustet über meine Mutter werfe ich einen Stein weit in den See hinaus. Plötzlich taucht vor meinen Füssen ein Junge auf: „Hey, pass gefälligst auf, wo du Steine hinwirfst! Ich wurde beinahe getroffen! Was glaubst du...“ Er verstummt, als er die Tränen in meinen Augen sieht. Schnell wische ich mir die Tränen weg. „Hey, du weinst?! Was hast du denn?“ – „Nichts! ich habe vorher nur mein Gesicht mit Wasser bespritzt!“, will ich mich rausreden. „Das glaube ich nicht! Ich bin doch nicht blind! Du trägst schwarze Kleider?! Trauerst du um jemanden?“ Ich springe auf und renne davon, höre wie er mir noch etwas nach schreit, aber ich ignoriere es. Ich gehe nach Hause und merke plötzlich, dass ich meine Tasche mit den Schlüsseln und die Schuhe am See liegen gelassen habe. Also gehe ich wieder zum See zurück. Nichts mehr davon ist da. Meine Tasche und die Schuhe sind verschwunden. „Oh nein, was mache ich jetzt?“ Ich denke daran, zu Mutters Freund zu gehen und mir die Schlüssel von Mutter zu holen, doch ich will nicht sehen, wie die Beiden mit Champagner den Tod meines Vaters feiern. Aber es bleibt mir keine Wahl, denn da ich neu in diesem Dorf bin, habe ich keine Freunde hier, zu denen ich gehen könnte. Morgen sollte mein erster Schultag sein. Als ich bei der Tür von Mutters Freund klopfe, öffnet niemand. Oh richtig, sie sind ja zur Feier des Tages ans Meer gefahren.

Ich gehe wieder zurück zu meinem Zuhause. Vor der Tür sitzt der Junge, den ich am See getroffen habe. Als er mich entdeckt, steht er auf und streckt mir lächelnd die Tasche und die Schuhe entgegen. „Vermisst du das etwa Caroline? Ich habe dir noch nachgerufen, aber du hast mich wohl nicht mehr gehört oder nicht hören wollen. Wie gut, dass du dein Name und die Adresse in deinen Terminkalender geschrieben hast, der in deiner Tasche lag. So habe ich dich gefunden! Ich bin übrigens Jonathan.“ Mir fiel nichts besseres ein als ihm zu danken und ihn zu fragen, ob er schon lange hier vor meiner Haustür warte. „Tja, so ungefähr eine Stunde!“ – „Was, schon so lange?“ Ich kann es nicht glauben! Wer tut sowas und wartet extra so lange blos wegen einer Tasche und ein Paar Schuhe? „Klar, ich konnte doch nicht einfach die Tasche vor das Haus legen und sich selbst überlassen. Die hätte dann bestimmt jemand gestohlen.“ – „Wow, das ist echt lieb von dir! Sag, kann ich dich zu einem Drink ins Haus einladen, wenn du schon so lange hier wartest?“ Jonathan willigt mit einem lächeln ein. Zum Glück habe ich das Haus sauber gehalten. „Sag mal, wo sind denn deine Eltern?“ Was soll ich ihm erzählen? „Mein Vater ist vor drei Tagen gestorben. Heute war seine Beerdigung und meine Mutter ist nicht da.“ Er senkt betroffen den Blick. „Oh das tut mir leid!“ Noch lange reden wir zusammen und wir verabreden uns für den nächsten Abend beim See.

Am nächsten Morgen gehe ich zur Schule. Als mich die Lehrerin der Klasse vorstellt, winkt mir plötzlich jemand aus der Klasse zu: „Hey Caroline, setz dich zu mir, da ist noch ein Platz frei!“ Es ist Jonathan. Ich könnte schreien vor Freude. Bald lerne ich Jonathan immer besser kennen. Wir gehen nun jeden Abend an den See und schwimmen, reden, träumen oder machen sonst was. Jetzt ist ein Monat seit unserem ersten Treffen vergangen. Das Geld für mein Essen ist aufgebraucht und Mutter hat seither noch nichts von sich hören lassen. Sie hat mich wohl vergessen. Ich muss, weil ich nicht will, dass es Jemand erfährt, arbeiten. Da ich aber tagsüber zur Schule gehen muss, muss ich einen Abendjob haben. Ich schreibe ein Inserat aus, dass ich als Begleitung für Männer mit ihnen gegen Bezahlung in den Ausgang komme. Küssen und Schmusen sei erlaubt. Jonathan sage ich, ich hätte keine Lust mehr ihn am Abend zu treffen. Er fragt mich in der Schule immer wieder nach dem Grund, doch ich sage ihm, ich hätte besseres zu tun.

So verdiene ich jetzt jeden Abend etwas Geld. Dennoch reicht es für das Haus nicht, also muss ich ausziehen. Seit drei Tagen schlafe ich deshalb in einer Notschlafstelle. Am Abend gehe ich die Herren treffen. Um Treffen zu arrangieren habe ich mir ein Handy geklaut. Diesen Abend, nachdem ich jemanden getroffen habe, will ich zur Notschlafstelle zurück. Ich merke wie mich der Mann verfolgt. Voller Panik renne ich los. Er ist jedoch schneller und erwischt mich. Mit Gewalt schleppt er mich zum See. Dort will er mir an die Wäsche gehen. Ich schreie in panischer Angst laut um Hilfe.
Plötzlich höre ich einen dumpfen Schlag und der Mann über mir sackt zusammen. Hinter ihm steht Jonathan. Schnell hebt mich Jonathan hoch und bringt mich von hier weg. An einem sicheren Ort, lässt er mich ins Gras gleiten. Ich zittere noch immer vor Angst und erzähle ihm stammelnd und weinend alles. Von meiner Mutter, dem fehlenden Geld und dem Inserat. Jonathan gibt mir einen Kuss und meint, er würde das regeln. Am nächsten Tag erklärt er mir, seine Eltern seien bereit, mich bei sich aufzunehmen, da er sowieso ein Einzelkind sei. Ohne dass ich richtig realisiere was ich tue, falle ich ihm um den Hals. Jetzt spüre ich das Gefühl, dass ich so lange geleugnet hatte, das Gefühl der Liebe. Leise und unsicher stammle ich ihm ein Liebesgeständnis vor. Ich fühle mich wie der letzte Trottel. Doch er stösst mich nicht weg, im Gegenteil: Überglücklich schliesst er mich in seine Arme und gibt mir einen zärtlichen Kuss. „Wir bleiben für immer zusammen!“ Mit diesen Worten dreht er sich mit mir im Kreis, bis uns schwindlig wird und wir ins Gras fallen, wo wir uns erneut leidenschaftlich küssen.

THE END

(© Nicole Abgottspon)